Gemeinde Teutschenthal

„Pille schließt nie!“ – ein Teutschenthaler Traditionsgeschäft seit 100 Jahren

Unsere Gegenwart wird gern als schnelllebig bezeichnet. Dieser Eindruck verstärkt sich besonders im Hinblick auf die Entwicklungen im Einzelhandel. In einer Zeit, in der Handelsketten und Onlinehändler unsere Einkaufsgewohnheiten zunehmend bestimmen, müssen immer mehr kleine alteingesessene Läden schließen. Vor allem im ländlichen Bereich konnten und können nur wenige Traditionsgeschäfte diesem „Wandel im Handel“ standhalten. Umso beachtlicher ist es also, wenn ein kleiner Familienbetrieb wie „Pille Schreibwaren“ in Teutschenthal sein 100-jähriges Bestehen feiern kann.

Der kleine Laden an der Friedrich-Henze-Straße 50 wird bereits in der dritten Generation geführt. So verwundert es kaum, dass die Geschäftsgeschichte zugleich eine Familienchronik widerspiegelt. Alles begann mit Paul Pille, welcher 1884 in Rothenschirmbach geboren worden war. Den gelernten Sattler hatte es nach dem Ersten Weltkrieg über Umwege nach Teutschenthal verschlagen. 1919 erwarb er hier das heute noch bestehende Geschäftshaus und eröffnete darin am 1. Juni desselbigen Jahres eine Sattlerei mit Einzelhandel (Abb. 1). In der Werkstatt wurden neben der Anfertigung und Reparatur von Pferde- und Reitsportartikeln auch Tapezier- und Polsterarbeiten ausgeführt. Trotz der schwierigen Nachkriegsjahre konnte der Kundenkreis kontinuierlich ausgebaut werden. Paul Pille gelang es mit Fleiß und Ausdauer, sein Geschäft gut durch die Zeiten der Inflation und Weltwirtschaftskrise sowie durch die Jahre des Zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden Besatzungszeit zu führen. Auch in der jungen DDR war das Sattlerhandwerk gefragt. So konnte sich Paul Pille, der bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1960 noch fast täglich in der Werkstatt stand, nie über eine mangelnde Auftragslage beschweren.

Das Geschäft ging an seinen Sohn, Karl Pille (geb. 1911) über (Abb. 2). Zwar hatte dieser bei seinem Vater den Beruf des Sattlers erlernt und sich später durch eine Ausbildung zum Polsterer noch weiter qualifiziert; das Familienunternehmen zu leiten, lag ursprünglich jedoch nicht in seinem Sinn. Über Wippra und Rügenwalde (ehemals Pommern, heute Darłowo, Polen) verschlug es ihn nach Berlin, wo er bis zu seiner Einberufung in den Wehrdienst 1939 ein Lebensmittelgeschäft betrieb. Erst die Tragödie des Zweiten Weltkriegs, in dem er seine Frau sowie beide Stiefsöhne verloren hatte, veranlasste Karl Pille wieder nach Teutschenthal zurückzukehren. Neben dem herkömmlichen Sattlerhandwerk erweiterte er die väterliche Werkstatt um die Anfertigung von Sitz- und Liegemöbel. Das Hauptaugenmerk richtete er jedoch auf die Vergrößerung des Sortiments im Einzelhandel. Auf 20 Quadratmetern Ladenfläche gab es neben Lederwaren nun auch Schreibwaren, Schulbedarf, Kunstgewerbe, Haushaltwaren, Kurzwaren, Sport- und Campingmöbel, Gardinenzubehör, Fußbodenbelag, Auslegeware, Wachstuchdecken, Wäschetruhen und so weiter. Trotz aller Schwierigkeiten bei der Warenbeschaffung in der DDR - besonders für Privatunternehmen – gelang es Karl Pille mit viel Geschick und Aufwand immer wieder begehrte Handelsartikel für sein Geschäft zu besorgen. Zum Markenzeichen der Firma Pille wurde aber das Anfertigen von Gardinenleisten. Nicht zuletzt deshalb war Pilles Laden weit über die Ortsgrenzen hinaus bekannt und auch bei den Hallensern und Eislebenern ein Begriff.

In all den Jahren stand ihm seine zweite Ehefrau Hilda als Verkäuferin zur Seite. Durch ihre ruhige, freundliche sowie höfliche Art war sie die gute Seele im Geschäft und bei den Kunden sehr beliebt. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1980 übergab sie 1982 das Geschäft an Sohn Helge (geb. 1955).

Der gelernte Chemiearbeiter wollte eigentlich nicht in Teutschenthal bleiben. Nach dem Tod seines Vaters kam für ihn aber eine Schließung des Familienunternehmens nie in Frage. Er entschloss sich stattdessen die Tradition an Ort und Stelle fortzuführen und machte eine Sattlerlehre, die er 1986 mit der Meisterprüfung krönte. In der Werkstatt wurden nun vor allem Reparaturen an Täschnerwaren, Polster- und Campingmöbeln ausgeführt sowie Planen für PKW-Anhänger und Spezialanfertigungen hergestellt. Auch Ausbesserungen an den typischen DDR-Schulranzen aus Schweinsleder gehörten zum Repertoire. Trotz der Breite an Dienstleistungen blieb die Anfertigung der berühmten Gardinenleisten weiterhin ein Aushängeschild der Firma Pille.

Im Einzelhandel wurde das Sortiment unverändert weitergeführt. Jedoch gestaltete sich die Warenbeschaffung infolge der allgemein angespannten Wirtschaftslage in der Republik immer schwieriger. Trotz aller Widrigkeiten gelang es alljährlich zur Weihnachtszeit das beliebte erzgebirgische Kunsthandwerk anzubieten.

Mit der politischen Wende in Deutschland kam es auch bei Pille zu einem Umbruch. 1991 musste das Sattlerhandwerk aus wirtschaftlichen und gesundheitlichen Gründen aufgegeben werden. Helge Pille konzentrierte sich nun auf den Verkauf von Schreibwaren, Schul- und Bürobedarf. Zudem gehören seit 1990 auch Presseerzeugnisse, wie Zeitungen und Zeitschriften, zum festen Warenbestand. Zwei Jahre später kam die Eröffnung der Lottoagentur hinzu. Für die Erweiterung mit einem Buchhandel besuchte Helge Pille 1993 eigens ein Kompaktseminar, um sich das entsprechende Basiswissen anzueignen. Um den gestiegenen Kundenansprüchen gerecht zu werden, unterstützt Ehefrau Heike Pille seit 1996 ihren Mann im Laden (Abb. 3).

Das Geschäftshaus wurde im Laufe der Jahrzehnte den sich wandelten Anforderungen baulich angepasst (Abb. 4). Ein Erker wurde bereits in den 50er Jahren aufgesetzt. 1987 folgte die Aufstockung des Gebäudes. Als in den 1990er Jahren das Geschäft für den reichlich fließenden Warenstrom aller Sortimente zu klein wurde, vergrößerte man die Ladenfläche um den anliegenden Bereich der ehemaligen Sattlerwerkstatt.
Entgegen aller Veränderungen innerhalb der vergangenen 100 Jahre; die Öffnungszeiten sind stets die gleichen geblieben. Seit 1919 schließt das Geschäft traditionell zur Mittagszeit zwischen 13 und 15 Uhr. Bereits die Philosophie von Firmengründer Paul Pille besagte: “Ein guter Geschäftsmann braucht seine Mittagsruhe!“

Über die Zukunft des Geschäfts müssen sich die Kunden vorerst keine Sorgen machen. Mindestens 8 Jahre möchte Helge Pille den Familienbetrieb noch führen. Was danach kommt wird wohl wie in der Vergangenheit des Unternehmens nicht zuletzt auch vom Faktor Zufall abhängig sein.

Die Weinranke neben dem Ladeneingang, die einst von Paul Pille gepflanzt wurde, steht deshalb auch sinnbildlich für die Firmengeschichte: Denn obwohl die Pflanze in den 70er Jahren zeitweise entfernt worden war, trieb sie immer wieder neu aus. Selbst unter Bauschutt kamen die frischen Triebe stetig zum Vorschein. Schließlich ließ man das Gewächs gewähren, so dass es heute nicht nur die Ladenansicht schmückt, sondern auch symbolisch für das Firmenmotto steht: fest verwurzelt, ausdauernd und unverwüstlich. Geschäftsinhaber Helge Pille ist sich deshalb sicher: „Pille schließt nie!“.
 
Mike Leske M.A.
(Stand 09. Juli 2019)


Quelle: Helge Pille, Unveröffentlichtes Manuskript zur Firmengeschichte (Teutschenthal 2019).

Abb. 1 Paul Pille mit Familie vor Geschäftshaus um 1925
Abb. 1: Paul Pille mit Familie vor dem noch heute bestehenden Geschäftshaus in der Friedrich-Henze-Straße um 1925. Foto: Helge Pille
Abb. 2 Karl Pille im Geschäft um 1978
Abb. 2: Karl Pille im Geschäft um 1978. Foto: Helge Pille
Abb. 3 Heike Pille im Geschäft um 1999
Abb. 3: Heike Pille im Geschäft um 1999. Foto: Helge Pille
Abb. 4 Geschäftshaus heute